ZEITANALYSE - Momente

Wie lange dauert ein Moment?

Ist es die tausendstel Sekunde Lichteinfall auf dem Sensor einer Kamera, oder die Telefonbandansage eines Kommunikationsdienstleisters: „Wir bitten um einen Moment Geduld.“? Und: Kann man das Ganze überhaupt holistisch betrachten?

Für jetzt, möchte ich aber einen Moment auf Reisen gehen. Die Temperatur auf angenehme 28 Grad anheben. Vögelgezwitscher, raschelnde Blätter und leichten Regenfall hören.

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St. Vincent und die Grenadinen, Westindische Inseln

7. März 2019 um 11:31 Ich kann mich noch gut daran erinnern. Ich war ein paar Tage zuvor auf St. Vincent gelandet, bereits davor gut an heiße Bedingungen akklimatisiert. Diese Insel bot mir allerdings eine komplett neue Welt. Nur 80km weit von der betonierten Schicki-Insel liegt ein unberührter Fleck. Jeder freie Zentimeter sprießt grün, Wald soweit das Auge reicht. Selbst in der 13.000 Einwohner Stadt Kingstown brechen Pflanzen durch Asphalt und Beton. Mitunter bieten das tropische Klima, acht Stunden Sonnenschein und eine Stunde Regen täglich die idealen Bedingungen dafür.

In diesem Moment bin ich weit weg von Hauptstadt und Straßensystem. Ich besteige einen Vulkan. 


Der Soufrière, der höchste Punkt der Insel.

Ein Mythos unter den Bewohnern, Lebensraum für unfassbare Spezien. 

Ich bin bereits das zweite Mal hier oben. Nach zwei Stunden Wanderung durch tristen Regen angekommen, gibt es diesmal keinen freien Blick auf den aktiven, rauchenden Krater. Beim Abstieg die Erkenntnis: Heute ist alles anders als vor einer Woche. Irgendwie schlüssiger, ehrlich.
Anfangs war ich skeptisch, aber ab diesem Moment verstehe ich ein satteres Bild. 

Die Blätter glänzen, das Rot der wilden Orchideen strahlt, man hört wie die Erde Wasser aufsaugt:
Der Regenwald atmet. 

Wie bewertet man einen Moment?

Ist es so einfach wie gerade beschrieben, oder müssen wir auch ansehen, wie dieser Moment entstanden ist?

Hier liegen eine Autofahrt, zwei Langstreckenflüge und eine Fährfahrt zuvor. Ohne diese wäre es mir nicht möglich gewesen, diesen Moment zu erleben und dokumentieren. Stattgefunden hätte er trotzdem.

Wenn mein Onkel mir Bilder aus 1974 vom Trampen durch den Irak und Afghanistan zeigt, dann sagt er manchmal: „So etwas wäre heute nicht mehr möglich.“
Macht das diesen Moment wertvoller?

Der Soufrière ist am 9. April 2021 ausgebrochen, hat eine Ascheschicht über St. Vincent und die benachbarten Inseln geworfen. 

Tausende Menschen mussten evakuiert werden, zur Zeit kämpft man um Trinkwasser. Die Spaziergänge durch den Regenwald werden wohl länger nicht so grün sein. Viel schlimmer ist, dass Pflanzen das Licht fehlt, Tieren der Zugang zu Nahrung oder Luft, Menschen fehlt Wasser, Nahrung, oder ein Dach über dem Kopf. Wichtiger wäre es also, wenn die Bewohner ihr altes, schon Covid-geplagtes Leben wieder aufnehmen könnten, was im Moment nicht absehbar ist. 

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St. Vincent und die Grenadinen

Aus dem Archiv
Besuch: Frühjahr 2019
Paul Meyer

Auf Anfrage können Prints erstellt werden, Erlöse gehen der SVG Volcano Relief Aktion zu Gute.